Einheitliches Design – mehr Barrieren!

Einheitliches Design – mehr Barrieren!

Am 3. Dezember war Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung. Der UN-Aktionstag rückt Menschen mit Behinderung in den Fokus. Ein Problem von Menschen mit Handicap sind ihre erlebten Barrieren – auch beim Einkaufen. Eine Facebook-Diskussion zeigt, Hürden im Supermakt sind vielfältig: Schon einheitliche Verpackungen von verschiedenen Produkten erschweren den Einkauf. Zum Beispiel Ostmann: Der Gewürzhersteller schafft unnötige Barrieren mit schlechtem Produktdesign. Ein Facebook-Thread zum Fall zeigt, wie behindertenfeindlich wir unabsichtlich noch denken.

Was ist Barrierefreiheit?

Laut der Organisation Aktion Mensch sind nur 10 Prozent des Einzelhandels barrierefrei. Doch was bedeutet Barrierefreiheit? Barrierefreiheit ist ein Idealzustand: Er bezeichnet ein Leben ohne Barrieren. Mit Barrieren sind hier strukturelle, physische oder mentale Hürden in der Gesellschaft gemeint. Sie verhindern, dass alle Menschen gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, also Inklusion. Manche Menschen mit Behinderung sagen: „Wir sind nicht behindert, sondern werden behindert”. Eben durch Barrieren der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, deren Norm-Bürger*in mittelalt, gesund, vital und Deutsche ist. Deshalb ist es politische Aufgabe, Barrierefreiheit zu erreichen. Die Bundesregierung hat dafür aktuell eine neue Bundesinitiative Barrierefreiheit beschlossen. Obwohl Barrierefreiheit das Ziel sein sollte: Ich befürchte, gänzliche Barrierefreiheit kann es nie geben. Im Wandel der Zeit entstehen stetig neue Barrieren. Deshalb ist meiner Meinung nach nur ein konstanter Abbau von Barrieren möglich.

Foto einer blonden Frau mit Pferdeschwanz von hinten, die in einem Rollstuhl auf einem sonnigen Weg umgeben von Rasen fährt.
Nicht jede Behinderung ist offensichtlich. (Nayeli Dalton / Unsplash)

Etwa zehn Millionen Deutsche mit Behinderung erfahren Barrieren. Zusätzlich unter anderem sehr alte Menschen, sehr junge Menschen, Ausländer*innen und Erkrankte.

Bei Barrieren denken wir zuerst an physische Hürden: An die Rollstuhlfahrerin, die einen Aufzug oder Rampe braucht. Weil sie die Treppen nicht laufen kann. Aber Barrieren gibt es etliche mehr und nicht immer sind sie so augenscheinlich. Ebenso wenig sieht man allen Menschen an, dass sie Barrieren erleben. Denn nicht alle sind in ihrer Mobilität eingeschränkt.

Arten von Barrieren

Barrieren gibt es unzählige und sie betreffen verschiedene Behinderungen oder Beeinträchtigungen. Eine Auswahl an gesellschaftlichen Barrieren:

Zwei Hände bedienen eine schwarze Computertastatur und eine Braille-Maschine, die darunter liegt.
Sehbehinderte können Computer nur mit Hilfsmitteln bedienen. (Sigmund / Unsplash)
  • Physische Barrieren: Barrieren, die die Mobilität einschränken. Greifbare Hürden, die Menschen den Weg oder Zutritt verwehren oder erschweren. Zum Beispiel Treppen oder nicht-ebenerdige Zugtüren. Menschen im Rollstuhl, mit Rollator, Krücken oder Kinderwagen überwinden diese Barrieren nicht. Zu schmale oder schwere Türen behindern, wenn sie nur mit manueller Kraft aufgehen. Auch falsch parkende Autos oder abgestellte E-Scooter auf Gehwegen sind physische Barrieren. Viele Menschen können nicht daran vorbeilaufen.

    Menschen mit Körpern abseits der Norm erfahren ebenfalls physische Barrieren: Kleinwüchsige Personen erreichen hohe Supermarkt-Regale nicht. Somit können sie manche Produkte nicht kaufen. Sehr dicke Menschen sind zu breit für manche Sitze im öffentlichen Raum oder Flugzeugen.

      • Sinnes-Barrieren: Barrieren, die die Sinneswahrnehmung erschweren. Betroffen sind Menschen, denen ein Sinn fehlt, zum Beispiel der Seh- oder Hörsinn. Blinde oder Gehörlose kompensieren ihren fehlenden Sinn mit anderen Sinnen. Diese sind besonders gut ausgeprägt. Allerdings gibt es auch taubblinde Menschen.

        Barrieren für Blinde sind zum Beispiel: Es fehlen verbale Durchsagen in Zügen und Bussen. Wichtige Informationen erfahren die Fahrgäste nur schriftlich über Anzeigetafeln. Diese können Blinde aber nicht lesen. Auch digitale Barrieren gibt es: Blinde können Websites nicht lesen, das übernimmt ein Screenreader. Diese Software liest dem User die Web-Inhalte vor. Der Screenreader hat Grenzen: Er versteht Fotos und Videos nur mit Alternativtexten. Das sind Meta-Texte, welche die Inhalte der Bilder und Videos beschreiben. Ohne Meta-Beschreibungen entgehen der blinden Person viele Homepage-Inhalte. Tipp: Mit dem Tastaturkürzel STRG + SHIFT + I kann man jede Homepage im Entwicklermodus des Browsers auf Barrierefreiheit überprüfen.

        Ähnlich bei kulturellen Angeboten: Blinde verstehen Kinofilme oder Shows nur mit zusätzlicher Audiodeskription. Diese gibt es nur in wenigen Kinos und Theatern.

        Barrieren für Gehörlose sind gegenteilig zu Barrieren für Blinde: Sie verstehen zwar verbale Durchsagen an Bahnhöfen und in Zügen. Aber nur, wenn die Infos laut und deutlich gesprochen werden. Das ist selten der Fall. Bei spontanen Gleiswechseln oder Zugausfällen fehlen oft Text-Infos auf den Anzeigetafeln. Dann wissen die Gehörlosen nicht, dass sie schnell das Gleis wechseln müssen. Digitale und mediale Barrieren für Hörgeschädigte existieren ebenfalls: Verbale Dialoge in Filmen verstehen sie nur mit Untertiteln. Diese fehlen oft. Live-Vorträge erfassen sie nur mit Synchron-Übersetzung durch Gebärden-Dolmetscher*innen. Solche Live-Übersetzungen sind noch kein Standard – es gibt sie nur selten und bei wenigen Fernsehsendern.

      • Kognitive Barrieren: Barrieren, die die geistige Verarbeitung von Infos erschweren. Betroffen sind Menschen mit geistiger Behinderung, verminderter Intelligenz oder Lernschwäche. Aber auch Kinder, alte Menschen mit Demenz, Analphabet*innen oder Nicht-Deutsche. Sehr oft ist Sprache die Barriere: Texte sind kompliziert geschrieben oder nicht-altersgerecht. Barrierefreie Lösungen sind Texte in einfacher Sprache. Diese Texte sind unkompliziert – formal wie inhaltlich. Auch Menschen ohne Behinderung verstehen die einfache Sprache viel besser. Eine noch strengere Form haben Texte in Leichter Sprache. Diese haben klare Regeln. Das Ziel: Sie sind auch mit kognitiver Einschränkung leicht zu verstehen. Unter anderem ersetzen und ergänzen Piktogramme komplizierte Formulierungen.

        Sensibilität für Barrieren

        Wir merken uns: Mit bloßem Auge übersehen wir viele Behinderungen oder Einschränkungen von anderen Menschen.

        Eine weitere wichtige Schlussfolgerung: Einige Menschen werden mehrfach behindert. So können sie ihren Körper zum Beispiel wegen Muskelschwäche nicht bewegen. Zusätzlich sind sie womöglich hörgeschädigt oder vermindert intelligent.

        Diese Erkenntnise sollten uns demütig und sensibel machen. Demütig, weil wir selbst ohne Behinderungen leben dürfen. Sensibel für die Barrieren und Beeinträchtigungen unserer Mitmenschen. Sensibel auch dafür, dass und wie wir diese Barrieren abbauen können.

        Supermarkt-Barrieren: einheitliche Verpackungen

        Verpackungen von Waren und Produkten sollten bestmöglich barrierefrei sein. Das kann zum Beispiel bedeuten: Schachteln oder Deckel sind einfach und einhändig zu öffnen. Da Blinde die Texte auf den Verpackungen nicht lesen können, sollte dort haptische Brailleschrift stehen.

        Ein Kleinkind steht im Supermarkt seitlich vor einem kleinen gelben Kinder-Einkaufswagen und wirft eine große Schachtel hinein, eine zweite hält es in der anderen Hand.
        Verpackungen sollten haptisch und optisch barrierefrei sein. (David Veksler / Unsplash)

        Barrierefreie Verpackungen erleichtern Kund*innen die Auswahl im Laden und die Produkt-Anwendung zuhause. Dennoch sind barrierefreie Verpackungen die große Ausnahme, obwohl es Lösungen gäbe. Handel und Industrie scheinen die Vorteile nicht zu kennen: Barrierefreie Verpackungen verbessern das Einkaufserlebnis und somit die Zufriedenheit der Kund*innen. Letztendlich steigert Barrierefreiheit das Marken-Image und den wirtschaftlichen Absatz.

        Eine einfache und günstige Möglichkeit, Verpackungen barrierefreier zu gestalten: Unterschiedliches Design für verschiedene Produkte derselben Marke. Menschen mit kognitiver oder sinnlicher Einschränkung profitieren davon. Denn sie können die Produkte leichter voneinander unterscheiden und wählen nicht das falsche beim Einkaufen.

        Wie es NICHT geht, zeigt der Gewürzhersteller Ostmann.

        Facebook-Post: Gewürzdosen schwierig zu unterscheiden

        Die Satire-Seite The Best Social Media teilte im November 2022 einen Tweet der Twitter-Nutzerin Frau Hackenpiep auf Facebook: Auf dem Screenshot sieht man ein Foto mit sechs aufgereihten Plastik-Gewürzdosen der Marke Ostmann – und alle sehen gleich aus. Die Klebe-Etiketten der weißen Döschen haben einen braunen Hintergrund, darauf ein schwarzes Feld. Im schwarzen Viereck steht in Weiß der Name des jeweiligen Gewürzes. Die Namen der Gewürze unterscheiden sich zwar, aber man muss zur Unterscheidung sehr genau lesen. Ebendiese fehlende optische Unterscheidbarkeit macht die Gewürze nicht barrierefrei.

        Facebook-Post von The Best Social Media zu einem Bild-Tweet über die schlecht unterscheidbaren Gewürzdosen von Ostmann.
        © The Best Social Media / Facebook

        Zu dem Bild schreibt Userin Frau Hackenpiep: „Alle sagen, sie hassen Menschen. Aber wirklich glauben kann ich es nur Ostmann“. Sie meint also humorvoll und überspitzt, dass es von Ostmann sehr kundenunfreundlich sei, seine Produkte so einheitlich zu gestalten. Weil Verbraucher*innen dann mehr Zeit brauchen, das benötigte Gewürz auszuwählen.

        Interessant ist, dass die Userin sich explizit auf alle Kund*innen von Ostmann bezieht, die Nachteile durch das schlechte Produktdesign haben. Tatsächlich profitieren alle Menschen von Barrierefreiheit – nicht nur behinderte. Dieses Phänomen nennt man Curb-Cut-Effekt.

        Doch wie empfinden Sehbehinderte solche Produkt-Verpackungen? Wir Durchschnittstypen finden diesen Ostmann-Fall vielleicht lustig oder nervig – aber er stört unseren Einkauf nicht wesentlich.

        Ganz anders bei sehbehinderten oder blinden Kund*innen. Sie müssen mit einem Screenreader einkaufen, wenn sie die Produkt-Namen auf den Verpackungen nicht selbst lesen können. Wie mühsam das ist, zeigt der Vlogger Mr. BlindLife in einem Video. Menschen mit einer restlichen Sehstärke profitieren von unterscheidbaren Verpackungen mit starken Kontrasten oder auffälligen Bildern. Text auf den Produkten ist dagegen nur schwierig zu erkennen. Deshalb ist es schlecht, wenn sich die Produkte nur anhand der Texte voneinander unterscheiden – wie bei den Ostmann-Gewürzen.

        Kein Bewusstsein für Sehbehinderungen

        In der Kommentarspalte zum Post von The Best Social Media fehlt das Bewusstsein für die Probleme Sehbehinderter. Die Follower*innen der Seite mögen lustige Posts, keine ernsthaften Debatten. Entsprechend ironisch wird auf den Einwand reagiert, dass das Produktdesign von Ostmann für Blinde nicht barrierefrei sei. Die unreflektierten Kommentare wirken unhöflich und ableistisch, also behindertenfeindlich:

        User R. meint in den Kommentaren, man könne ja einfach den Text auf den Gewürzdosen lesen. Problem gelöst. Dabei kann ja eben nicht jede Person lesen – Blinde nicht und Analphabet*innen auch nicht.

        Facebook-Kommentar zum Ostmann-Post von The Best Social Media. Thema: Wer lesen kann, habe kein Problem mit dem Design der Gewürzdosen.
        Facebook-Kommentar zum Ostmann-Post von The Best Social Media. Thema: Barrierefrei sei, einfach an den Dosen zu schnuppern.

        User L. schlägt vor, Blinde könnten ja einfach an den Gewürzdosen riechen, um ihren Inhalt zu unterscheiden. Das ist in seiner Realitätsferne zynisch und verächtlich. Auch sehende Kund*innen wollen den Inhalt nicht mit der Nase erraten.

        User T. findet den schwarz-weißen Kontrast auf den Dosen-Etiketten ausreichend. Das gilt jedoch nur für die Leute, die gut sehen und lesen können.

        Facebook-Kommentar zum Ostmann-Post von The Best Social Media. Thema: Weiße Schrift auf schwarzem Grund sei genügend barrierefrei.
        Facebook-Kommentar zum Ostmann-Post von The Best Social Media. Thema: Blinde sollten einfach Brille oder Kontaktlinsen tragen.

        Den behindertenfeindlichsten Kommentar schreibt User J.: Brille oder Kontaktlinsen würden helfen, die Gewürzdosen zu unterscheiden. Ihm fehlt jedes Bewusstsein für Sehbehinderte. Blinde Menschen sind nicht gleichzusetzen mit Brillenträger*innen: Sehhilfen nutzen bei Kurz- und Weitsichtigkeit, aber nicht mehr bei Blindheit.

        Erschütternd an der Diskussion ist die Ansicht, dass die Sehbehinderten selbst ihre Barrieren beheben müssten. Das ist falsch, denn Inklusion ist ein Menschenrecht. Die „Träger öffentlicher Gewalt” in Deutschland müssen Barrierefreiheit umsetzen. Nicht Menschen mit Behinderungen.

        Fehlendes Bewusstsein für die Barrieren von anderen

        Es mangelt an einem Bewusstsein für die Diversität von Behinderungen im Alltag – sowohl bei Hersteller*innen als auch Verbraucher*innen von Produkten. Das müssen wir ändern: Denn ohne ein Bewusstsein für die Barrieren unserer Mitmenschen können wir sie als Gesellschaft nicht abbauen. Nur weil wir selbst ohne Probleme einkaufen gehen, gilt das nicht für alle anderen. Eine Motivation für Barrierefreiheit ist der Curb-Cut-Effekt: Letztendlich profitieren wir alle von gut unterscheidbaren, aufälligen Verpackungen.

        Wie könnte barrierefreies Produktdesign aussehen? Für die Firmen ist das ein Spagat: Einerseits muss man ihre Marke wiedererkennen, andererseits soll das Produkt kundenfreundlich und damit barrierefrei sein. Kann das gemeinsam gehen? Ich habe keinen Gewürzhersteller mit idealem Verpackungsdesign gefunden. Aber der Hersteller Just Spices verfolgt zumindest die richtige Richtung: Seine Gewürzdosen haben einen hohen Wiedererkennungswert und sind gleichzeitig gut zu unterscheiden. Je nach Anwendungszweck haben die Etiketten eine andere Grundfarbe, darauf je eine kontrastreiche Zeichnung eines unterschiedlichen menschlichen Gesichts.

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