Juli Zeh: Toleranz für Intoleranz?

Juli Zeh: Toleranz für Intoleranz?

Juli Zehs Roman „Über Menschen“ von 2021 plädiert für Toleranz mit Rechtsextremen. Man könne mit politisch Andersdenkenden mehr gemeinsam haben als mit Menschen der eigenen Bubble. Dieser Fall mag vorkommen, mir erscheint er konstruiert – und die Botschaft der Geschichte ist gefährlich.

Handlung von „Über Menschen”

Juli Zehs Roman „Über Menschen“ handelt von einer mittelalten Werbetexterin aus Berlin. Dora ist gestresst und abgestumpft von der Oberflächlichkeit, Konsumorientierung und angestrengten Weltverbesser-Mentalität in der Großstadt. Deshalb zieht sie nach der Trennung von ihrem Freund (als pedantischer Hipster das Gegenmodell zu Dora) in das winzige brandenburgische Dorf Bracken. Der Ort vereint die ganze politische Inkorrektheit, die in Berlin längst Opfer der medialen Cancel Culture wurde: Alle rauchen, trinken, essen viel Fleisch, aber kein Gemüse, und sagen, was sie denken. Erklärt wird die Dorf-Mentalität damit, dass es sozial abgehängt sei und von der Landesregierung vergessen werde.

In dieser grünen Einöde erhofft sich die eigenbrötlerische Dora einen Zugang zu sich selbst. Denn sie leidet unter Panikattacken, die von schlimmen Nachrichten aus aller Welt ausgelöst werden. Nur die Leser*in, aber nicht die Figur Dora ahnt die Ursache: Dora hat die schlimme Nachricht vom frühen Tod ihrer Mutter in der Kindheit nie verarbeitet. Statt den Trauerschmerz zu fühlen, war Pragmatismus ihre naheliegende Lösung. Ihr Vater, ein kultivierter Chefarzt, lebt ihr bis heute vor, wie man mit übertriebener Sachlichkeit und Stoizismus anscheinend gut durchs Leben kommt.

Der Nazi als Ersatztherapist

Und wie gelingt Dora die Bewältigung ihres Traumas? Mit Psychotherapie? Nein, mit der realen Konfrontation mit ihren Ängsten: in Gestalt ihres Nachbarn Gote, dem „Dorfnazi“. Er ist rechtsextrem, geschieden, ausländerfeindlich, homophob und misogyn, außerdem mehrfach straffällig geworden. Zudem hat er ein Alkohol- und Hygieneproblem. Gote verkörpert all das, was Dora ablehnt, oder aufgrund ihrer Sozialisierung abzulehnen gelernt hat. Denn darauf will Autorin Juli Zeh wohl hinaus: Hass auf Rechtsextreme ist nur angelernt. Lerne sie besser kennen und du wirst dich ihnen näher fühlen als deinesgleichen. Über sie wirst du auch dich besser kennenlernen.

So kommt es: Erst verabscheut Dora Gote, dann lernt sie ihn wegen der räumlichen Nähe zwangsläufig besser kennen und bemerkt seine guten Seiten: Er lebt gegenwärtig und grübelt nicht, ist hilfsbereit, kreativ und sehr loyal. Der Neonazi lehrt Dora, sich nicht zu sorgen, sondern zu leben. Er hat nicht einmal Angst vor dem Tod – und damit Dora einiges voraus. Es entwickelt sich eine platonische Liebe zwischen den beiden. Als Gote schwer krank wird, konfrontiert das Dora erneut mir ihrer Urangst: einen geliebten Menschen zu verlieren. Zueinander finden die Hauptpersonen über ihren Hund und seine kleine Tochter. Hund und Tochter stehen für die Unbeschwertheit und Emotionalität, die Dora abhandenkamen – während ihrer abrupt endenden Kindheit als Halbwaise.

Corona verkleinert politisches Gefälle

Dass sich eine linke Akademikerin und ein rechtsextremer Trinker anfreunden, ist unwahrscheinlich. Deshalb lässt Zeh die Handlung in einer absoluten Ausnahmezeit stattfinden: dem ersten Corona-Jahr, 2020. Damals wurden gesellschaftliche Normen außer Kraft gesetzt und konnten neu definiert werden.

Zwar hadert die Hauptfigur Dora anfangs mit ihrer wachsenden Sympathie für Neonazi Gote und hinterfragt ihren moralischen Kompass. Aber spätestens im letzten Drittel des Buches ist das kein Thema mehr: Dora wird zur stärksten Fürsprecherin Gotes und seiner engsten Vertrauten im Dorf. Seine Gewalttaten rücken in den Hintergrund.

Analyse

Ich ziehe zwei Botschaften aus „Über Menschen“, beide finde ich problematisch: Erstens, Neonazis sind „Menschen wie du und ich“, haben mehr Gemeinsamkeiten mit uns als Gegensätze, und somit unsere Sympathie verdient. Zweitens, im Angesicht des Todes sind die Taten von Neonazis zu vernachlässigen. Die Angst vor dem Tod eint uns Menschen, weswegen wir dann keinen Groll mehr aufeinander haben dürfen. Nur noch Mitgefühl.

„Mitgefühl für Nazis“ – eine problematische Botschaft!

Warum ich das Toleranz-Plädoyer von „Über Menschen“ problematisch finde:

Krankheit entschuldigt schlechtes Verhalten

Krankheit ist keine Ausrede und keine Entschuldigung. Trotzdem: Als Gote die verheerende Diagnose erhält, wirft Dora alle Bedenken bezüglich seiner Gesinnung über Bord. Ihr plötzlicher Sprung von der misstrauischen Kritikerin zur hingebungsvollen Pflegerin Gotes ist für mich als Leserin nicht nachvollziehbar. Kranke dürfen Mitgefühl erwarten, ja. Aber sie behalten die volle Verantwortung für ihre Taten. Auch ist mir der Fokus viel zu sehr auf Gotes Gesundheit und zu wenig auf seinen Opfern. Was ist mit den bleibenden Schäden bei seinen Opfern? Darüber schreibt Zeh gar nichts. Sie deutet eine Täter-Opfer-Umkehr an, die ich fatal finde. Gote bleibt aber weiterhin Täter, auch als Schwerkranker.

Ebenso müssen Opfer ihren Täter*innen nicht verzeihen, egal, ob diese alt oder krank sind. Auffällig ist auch, dass sich Gote – im Gegensatz zu Dora – charakterlich nicht weiterentwickelt. Im ganzen Roman zeigt er keine Reue oder Selbstreflexion, während Dora toleranter, liebevoller und zugewandter wird. Es bleibt unklar, warum Zeh bei der Charakterzeichnung so unterschiedlich streng ist.

Sexistische Doppelstandards: Väter zu milde bewertet

Die dargestellten positiven Eigenschaften von Gote sind nichts Besonderes, weder als Einzelperson noch in seiner Rolle als Vater von Franzi. Jedoch betont Juli Zeh die positiven Handlungen Gotes auffällig. Grund für die Übertreibung des Positiven könnte sein: Seine menschlichen Abgründe vergisst die Leser*in so bestenfalls oder bewertet sie als weniger schlimm.

Im Fokus der Erzählung steht Gotes positives Verhalten als Vater. Traurigerweise ist es nur das absolut zu erwartende Minimum von jedem Elternteil: Er lacht und spielt mit seiner Tochter, lässt sie frei draußen spielen und trägt sie hoch ins Bett, wenn sie müde ist. Die Hauptperson Dora ist sichtlich gerührt, wenn der bärenstarke, sonst so aggressive Gote bei seiner Tochter plötzlich gutmütig und liebevoll ist. Nur: Warum sollte die Leser*in diese Selbstverständlichkeit bei Gote höher anrechnen als bei jedem anderen Vater?

Weil sie im Kontrast zu seinen negativen Eigenschaften wie eine ausgleichende Gerechtigkeit wirkt. Denn Gote vernachlässigt sein Kind gleichzeitig in einem Ausmaß, bei dem normalerweise das Jugendamt einschreitet: Franzi lebt in einem zugemüllten, dreckigen Zimmer, bekommt keine regelmäßige Nahrung und ist stunden-, manchmal nächtelang allein. AUßerdem erlebt das Mädchen die Wutausbrüche seines Vaters und seine Saufgelage unmittelbar. Diese Tatsachen werden nur beiläufig erwähnt und ändern nichts an Doras Zuneigung für Gote. Mit dieser unfairen Gewichtung von Gotes Eigenschaften soll die Leser*in schlussfolgern: Gote ist ein toller Vater und Mensch! Das ist er offensichtlich nicht und er wird auch zu keinem guten Menschen im Romanverlauf. Stattdessen begeht er trotz Doras und Franzis positiven Einflusses weiter Straftaten. Diese Doppelstandards von Zeh, angewandt auf einen alkoholsüchtigen Rechtsextremen, machen mich wütend.

Frauenfeindliche Haltung

Nicht zuletzt wendet Zeh auch sexistische Doppelstandards an. Gotes Ex-Frau, bei der Franzi hauptsächlich lebt, kommt im Roman verglichen mit Gote schlecht weg. Sie wird als überbehütende, eher strenge Mutter beschrieben, bei der Franzi ihren Freiheitsdrang nicht ausleben kann, weil sie in der Großstadt wohnt. Völlig irritiert hat mich die negative Auslegung durch Zeh, dass die Mutter Franzi ordentlich und anlassbezogen schick kleidet. Als wären klare Grenzen, Verlässlichkeit, Sauberkeit und Routine schlecht für Kinder – und nicht etwa Verwahrlosung, Unberechenbarkeit und miterlebte Gewalt wie bei Gote.

Zeh findet es weiter nicht erwähnenswert, dass sich die Mutter als Alleinerziehende die Mehrheit der Zeit um Franzi kümmert – nicht nur in den Ferien wie Gote. (Exkurs: Dass unbezahlte Care-Arbeit von Müttern selbstverständlich erwartet, aber bei Vätern gelobt wird, ist ein strukturelles Problem der Gesellschaft. Und Sexismus.)

Das Buch teilt auch nicht die Sichtweise, dass die Trennung der Mutter vom gewaltbereiten Gote eine starke, mutige Tat war – und das Beste für ihre Tochter. Vielmehr wird sie in der Geschichte als egoistische Frau porträtiert, die ihren hilfsbedürftigen Mann im Stich lässt. Eine frauenfeindliche Sicht, die ich ablehne.

Verharmlosung rechter Gewalt

Ihre Menschlichkeit sollte uns nicht milder in der Beurteilung von Neonazis machen: Es ist eine Binsenweisheit, dass Nazis „auch nur Menschen“ sind. Und jeder Mensch hat gute und schlechte Eigenschaften. Nur: Schlechte Eigenschaften sind nicht gleich schlechte Eigenschaften. Überheblich, pedantisch und kleingeistig zu sein wie Doras Ex ist nicht gleichzusetzen mit Gote, der Antifaschist*innen schwer verletzt, seine Ex-Frau geschlagen oder Homosexuelle bedroht hat.

Man kann Rechtsextremen Menschenrechte zugestehen und sich trotzdem klar von ihnen distanzieren. Keine Toleranz für Intoleranz! Die wenigsten Menschen begehen schwere Straftaten wie Gote, trotz schlimmer Kindheit nicht. Deshalb sind die, die Gewalt anwenden, in Gänze dafür verantwortlich. Indem Zeh die Straftaten eines Nazis mit Charakterschwächen von linken Großstädter*innen gleichsetzt, verharmlost sie rechte Gewalt.

Freundschafts-Begriff wird verwässert

Zeh ignoriert, wie wichtig gleiche Werte und Moralvorstellungen für eine gute Freundschaft sind. Ihr Roman suggeriert, man könne sich mit jeder Person anfreunden, wenn man nur genug Zeit miteinander verbringt. Zwar entscheidet oft der Zufall, ob man als zukünftige Freund*innen aufeinandertrifft. Für eine erfolgreiche Freundschaft sind aber andere Kriterien entscheidend. In „Über Menschen“ ist die Freundschaft aus der Not geboren: Dora und Gote arrangieren sich miteinander, weil es für das soziale Klima im Dorf notwendig ist. Glücklicherweise entdecken sie ein paar Gemeinsamkeiten und erleben schöne Momente. So weit, so normal. Es wäre jedoch viel realistischer, wenn sich Dora mit einem Menschen aus ihrem sozialen Milieu anfreunden würde.

Zudem bedeutet echte Freundschaft nicht nur uneingeschränkte Toleranz füreinander, sondern das Beste aus dem anderen zu fördern. Das findet im Buch wenn überhaupt nur einseitig statt: Durch die Freundschaft mit Dora wird Gote nicht zu einem besseren Menschen. Im Gegenteil: Er tätigt in ihrem Beisein einen homofeindlichen Angriff.

Fazit: keine Leseempfehlung!

Juli Zehs detaillierte menschliche Beschreibungen und ihren psychologischen Blick auf Beziehungen mag ich sehr. Auch in „Über Menschen“ habe ich die Abschnitte zur seelischen Zerrissenheit von Dora gerne gelesen. Trotzdem kann ich das Buch nicht empfehlen. Denn Doras spannende Innenwelt ist nur eine Randerscheinung im Roman. Fokus ist der Neonazi Gote – genauer die Legitimierung seiner Gewalttaten: Mit Täter-Opfer-Umkehr, falscher Gewichtung und (sexistischen) Doppelstandards will Juli Zeh unsere Sympathie für Rechtsextreme wecken. Ein Buch darf aber keine Toleranz für Intolerante propagieren!

Daten zum Roman „Über Menschen“

Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand: München 2021. Belletristik, Hardcover, 416 Seiten.

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